Claras Allerleiweltsgedanken

Abiturbeurteilung (DDR)

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Durch Zufall bekam ich nachfolgend zu lesende Beurteilung über mich in die Hand. Ich wirkte in einem Film über Walter Janka mit. Dieser Film diente der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und der Beschäftigung  arbeitsloser Jungregisseure. Wir fuhren mit dem Filmteam in meine Heimatstadt, weil am dortigen Gymnasium „alles begann“ mit meiner oppositionellen Ader. Ich hatte dort in den 60er Jahren mein Abitur gemacht.
Die Sekretärin griff ins Regal, zog den Ordner meines Jahrganges hervor und schon hatte ich alles vor mir liegen: meine Beurteilung, die ich nie zu sehen bekommen hatte, die selbstverfasste „Darstellung meiner Entwicklung“ und meinen Personalbogen. Ich war immer eine sehr aufmüpfige Schülerin, aber als ich jetzt las, wie ich mich in meiner „Darstellung“ politisch verbiegen musste, um den Schaden zu begrenzen, kamen mir fast die Tränen. In der 10. Klasse schmiss man mich aus der FDJ, das sicherste politische Todesurteil. – Später gab es mal das Verbot, Münzen an einer Kette um den Hals zu tragen. Ich hatte keine, aber aus Opposition trug ich am nächsten Tag die Gedenkmedaille vom Münchener katholischen Kirchentag, denn ich war streng katholisch. Meiner Meinung nach war es ja keine Münze, aber mein Direktor sah das anders. Ich wurde sofort zur Staatssicherheitsbehörde bestellt. Ein junger Mann – gestreifte Hose, kariertes Sakko, geblümtes Hemd, schreiende Krawatte (alles leicht übertrieben) wollte mit mir über die Ästhetik dieser Medaille diskutieren. Als ich ihn fragte, ob er sich schon einmal im Spiegel angesehen hätte, schmiss er mich raus. Leider sollte ich kurz danach auch aus der Schule geschmissen werden – nur 2 Stimmen von vernünftigen Lehrern haben mich davor bewahrt, abiturlos durchs Leben zu gehen.
Nach der Beurteilung musste ich mich nicht wundern, warum ich keinen ordentlichen Studienplatz bekommen habe. Hinzu kam noch erschwerend, dass mein Halbbruder stellvertretender Polizeipräsident war – allerdings im „falschen“ Teil Deutschlands.Lax sagte man dazu einfach: „Der hat mir die Kaderakte versaut.“

Beurteilung für die Abiturientin Clara Himmelhoch
Claras Vater ist 1946 tödlich verunglückt. Die Mutter ist Lehrerin an der Kaufmännischen Berufsschule. Sie gehört keiner Partei an. Die häuslichen Verhältnisse sind geordnet. Clara hat jede Möglichkeit zu ungestörter Arbeit. Die Mutter besuchte zwar die obligaten (?) Elternversammlungen, war aber um eine enge Kontaktnahme mit der Schule nicht bemüht.
Clara wird streng kirchlich erzogen. Die geringe Aufgeschlossenheit der Mutter politischen Fragen gegenüber und ihre religiöse Bindung erschwerten es Clara sehr, zu unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat in ein rechtes Verhältnis zu kommen. (in ein linkes aber offensichtlich auch nicht)
Clara ist zudem das typische Einzelkind. Ihr Egozentrismus verbot es ihr, sich einem Kollektiv unterzuordnen. Sie imponierte durch ihr selbstbewusstes Auftreten. Sie war – besonders in der 9. und 10. Klasse – von der Richtigkeit ihrer Ansichten und ihres Verhaltens restlos überzeugt, so dass eine Beeinflussung zum Positiven durch Lehrer und FDJ-Gruppe sehr erschwert war. In Diskussionen und Auseinandersetzungen, die mit Clara sehr gründlich und mit viel Geduld geführt wurden, brachte Clara ihre negative Einstellung unseren staatlichen Einrichtungen gegenüber offen zum Ausdruck. Sie wurde aus diesem Grunde in der 10. Klasse aus der Mitgliederliste der FDJ gestrichen.
Clara ist inzwischen reifer und zugänglicher geworden. Sie steht nicht mehr außerhalb des Klassenkollektivs. Im Klassenensemble (Chor) leistet sie eine gute Arbeit. Ebenso als Kassierer der DSF (Deutsch Sowjetische Freundschaft) im Rahmen der Schule.  Sie gehört der SSG (Schulsportgemeinschaft)(Deutsches Rotes Kreuz) Geräteturnen und Tischtennis an. Sie singt im Schulchor mit und hat einen Lehrgang des DRK besucht.
Clara ist eine geistig sehr rege Schülerin. Sie verfügt über ein gutes Abstraktionsvermögen und kann logisch denken. Sie lässt sich mehr vom Verstand als vom Gefühl leiten. In Deutsch und Biologie erreichte sie sehr gute, in den anderen Fächern durchweg gute Leistungen.
Ihr besonderes Interesse gilt den Sprachen. Seit der 9. Klasse nahm sie Privat stunden in Latein und Französisch. In der 10. Klasse legte sie an der Volkshochschule ihr Abitur in Französisch ab. Sie steht in Briefverbindung mit Freunden aus Frankreich, Polen und der Sowjetunion.
Seit ungefähr einem Jahr sind in Claras Verhalten Veränderungen zum Positiven festzustellen. Wie weit jedoch ihre Aktivität und an den Tag gelegte Einsatzfreudigkeit einer inneren Überzeugung entspricht, lässt sich schwer einschätzen. Einen Antrag um Wiederaufnahme in die FDJ (Freie Deutsche Jugend) hat sie nicht gestellt.
Clara wird noch ernsthaft an sich arbeiten müssen, um zu einer politischen Haltung im Sinne unseres Staates zu kommen.
Wer auf eine solche Beurteilung nicht stolz ist, ist selbst dran schuld – so ähnlich, wie es Kurt Tucholsky wohl gesagt hat:
„Ich bin stolz darauf, ein Jude zu sein – denn wäre ich nicht stolz darauf, bliebe ich dennoch ein Jude.“

Der letzte dick geschriebene rote Satz stand in meinem offiziellen Abiturzeugnis – und schon dafür hätte ich meinen Klassenlehrer würgen können. Hätte ich jedoch die ganze Wahrheit gewusst, wäre daraus ein „er“würgen geworden. Lehrer lebten also auch schon damals gefährlich, auch ohne Amokläufe.
Was man mir noch so für Steine auf den  Weg meiner beruflichen Entwicklung gelegt und geworfen hat, davon berichte ich später einmal

Autor: Clara Himmelhoch

Auf meinem PR = purple Roller fahre ich durch die Bloggerwelt und mache PR = Public Relation. In meinem Gepäck habe ich fast täglich eine "Überraschung" für meine LeserInnen. Hausfrauentipps und -tricks als auch Koch- und Backrezepte müsst ihr wo anders suchen.

30 Kommentare zu “Abiturbeurteilung (DDR)

  1. Zitat: „Als ich ihn fragte, ob er sich schon einmal im Spiegel angesehen hätte, schmiss er mich raus.“ JA! Die Antwort hätte auch von mir sein können. Für mich als Freigeist ist es schwer vorstellbar wie es sein muss, wenn man sich verstellen oder verbiegen muss, um nicht beim Staat in Ungnade zu fallen.

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    • Man oder besser frau hatte eben eine private und eine öffentliche Meinung – aber ich habe viel zu oft meine private Meinung zur öffentlichen gemacht.

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      • Meine deutsche Seite macht das auch. Meine japanische lächelt meist nur. Rate welche gewinnt 😉

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        • Ich hoffe ganz sehr für dich, dass es die japanische ist, denn im Moment finde ich „deutsch“ nicht ganz so prickelnd.
          Was hast du denn im vorhergehenden Kommentar mit „Warteschleife …“ gemeint?

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          • Dass ich Beiträge nur noch per Hand freischalte. Wenn ich im Urlaub bin und nicht am PC, kann eine Antwort also einige Wochen dauern.

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            • Ich als „alte Frau“ erlaube mir jetzt eine neugierige oder besser wissbegierige Frage: Wie jung bist du? Etwas über 30 muss es ja sein, denn du schreibst, dass du 30 Jahre in Deutschland gelebt hast. Nach deinem Gravatar könntest du auch 25 sein.

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            • Meine Biestigkeit ist 1984 in Japan geboren. Der Gravatar ist lediglich ein gezeichnetes Bild, das mir gefallen hat. Aber wie die meisten AsiatInnen, sehe ich deutlich jünger aus. Das ist bei uns so. Wenn wir uns einen Spaß machen, ziehen wir uns kurze Röcke an und binden uns Zöpfe oder Pferdeschwanz. Dann gehen wir locker als Teenies durch. Das haben wir ab und an gemacht und japanische TouristInnen gespielt. Das war stets witzig zu hören, was andere über uns denken. 🙂

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            • Wow – ganze 34 Jahre jung – dann habe ich das doch schon irgendwo gelesen oder zusammengerechnet.
              Stimmt, japanische oder asiatische Frauen sind wirklich schlecht zu schätzen.
              Das stelle ich mir herrlich vor – sich unter Deutsche mischen und so tun, als wenn man nur japanisch könnte. Ich würde auch oft mit Tarnumhang rumlaufen, um mal ehrliche Gespräche über mich zu hören.

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            • Tipp: Japanisch lernen und nach Japan kommen! Das Problem: Niemand wird über dich sprechen. Japaner schauen vielleicht kurz und lächeln. 🙂

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            • Du hast mir doch jetzt gleich die Motivation ausgetrieben: Wozu Japanisch lernen, wenn eh keine/r über mich spricht, was ich verstehen wollte. 🙂

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          • Noch eine Ergänzung. Du sprichst mit dem Satz „deutsch sei nicht mehr so prickelnd“ etwas an, was das wahre Problem Deutschlands ist: Die verlorene Identität. Wir Ausländerinnen – ich habe auch die deutsche Staatsbürgerschaft – lieben dieses Land, seine Menschen und die einzigartige Kultur. Für JapnerInnen wäre es unvorstellbar, die eigene Identität und damit Japan in Frage zu stellen. Ich mag keine Werbung für meinen Blog machen, aber unter dem Beitrag „Warum ich eine Patriotin bin“ habe ich noch einmal zusammengefasst, wie ich darüber fühle und denke.

            Grüße aus dem sonnigen Fukuoka

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            • Deutsche zeigen ihr Nationalbewusstsein am meisten während eines Fußball Großereignisse. Am liebsten dann, wenn sie gewinnen, dann behängen sie alle ihre Autos mit diesen Statussymbolen. Ich konnte mich noch nie zu einem richtigen Nationalbewusstsein durchringen. Zufällig in Bayern geboren, das fand ich nicht gut. Dann in Görlitz aufgewachsen, das gehörte zu Sachsen. Das fand ich auch nicht gut. Jetzt in Berlin bei den Großschnauzen wohnen, na das finde ich erst recht nicht gut. Ich kann mich nicht durchringen, was ich wirklich sein möchte

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            • Du bist du. Das ist genug.

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  2. bei mir steht „… muss an sich arbeiten, um den gesellschaftlichen Anforderungen an sein Verhalten gerecht zu werden“

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    • „Typisch“ finde ich in meinem Falle nur, dass die, die mir das damals eingebrockt haben und heute die Unschuld vom Lande spielen, nicht ein Wort der Entschuldigung über ihre Lippen bekommen.

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      • Schweigen aus Scham ist auch eine Art von Bitte um Nachsicht („Vergebung“ lösche ich wieder, denn das ist wahrlich nicht zu erwarten) – im Übrigen hat mir solch Urteil nicht genutzt, ich blieb lange Zeit „auffällig“ – aber auch nicht geschadet. Was mich heute wundert. Meine Stasi-Akte war deutlich dünner als von mir erhofft.

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        • Die Akte ist aufgeteilt nach Wohnorten – ich müsste jetzt die von Görlitz anfordern. Vor Jahren, als ich Einsicht nahm, waren alle „Vorkommnisse“ nur aus der Berliner Zeit.
          Eine erneute Anforderung würde mich sicher auch nicht beruhigen.

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  3. Clara, du bist und bleibst ein Satansbraten und das meine ich als Kompliment. Ich habe deine Beurteilung eben mit einem dicken, fettem Schmunzeln gelesen…

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  4. Ach je, wie schwer du es hattest. Und diese Typen sind jetzt irgendwo, untergetaucht, geben sich rechtsstaatlich oder sonstwie – genau wie die alten N-a.-z.i-s, von denen auch nicht alle zur Rechenschaft gezogen wurden.

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  5. So kann man einem jungen Menschen das Leben versauen. Schlimm ist, dass diese Typen nie zur Rechenschaft gezogen wurden sondern oft sogar, wie du ja auch erwähnst, irgendwo wieder in Amt und Würden sind.

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    • Sicherlich haben nicht nur die beiden meine Zukunft versaut, ich habe da kräftig mitgewirkt. – Das ist immer so, wenn man gegen ein System, gegen einen Strom schwimmt. – Und ich habe es auch hinter mich gebracht, zumindest zu großen Teilen.

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  6. Tina, das habe ich mich nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal gefragt – sondern immer, immer wieder – und öfters sind sie mir ja dann danach wieder begegnet, wenn sie in einem kleinen Amt Macht hatten, die sie skrupellos ausgenutzt haben. – Aber ich werde es nicht mehr ändern können – aber auf das fiese Gesicht dieser Dame bin ich einesteils gespannt, anderenteils möchte ich mich lieber davor drücken.

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  7. Pingback: Out of topic – Klassentreffen « Claras Allerleiweltsgedanken

  8. Puh, du hast ja am Wochenende schon einiges erzählt, aber das ist wirklich heftig. Wie konntest du nur????

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    • Rückfrage: Was meinst du genau mit „Wie konntest du nur?“ – So aufmüpfig sein? So standhaft bleiben? – Aber ist ja im Endeffekt auch egal, denn ich habe im Jahr 1964 Abitur gemacht, wo du noch 14 Jahre „Teichrunden“ vor dir hattest!
      Sonnigen Tag wünsche ich dir! Gute Klienten mit ernsthaften Klagen gegen ihre Behandler!

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      • Liebe Clara, da ging mal wieder meine Ironie mit mir durch. Wie konntest du dich nur so aufführen, dass man dich nur so beurteilen konnte 😉 Nein, Hut ab vor so viel Courage!
        Alles Liebe,
        Sunny

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  9. Gatte nennt mich Elefant – nicht wegen des Hinterns, aber wegen des Gedächtnisses.
    Freunde werden bei mir nur Leute, die damit klarkommen, die Anderen gehen freiwillig wieder und das ist auch in Ordnung.

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  10. Auch ein „stures Biest“? Prima!

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