Eines Tages traf es sich, dass die drei Knaben schulfrei hatten, weil eine Gasexplosion die Schule stark in Mitleidenschaft gezogen hatte. Alle Eltern waren heilfroh und dankten dem Schicksal oder Gott, dass diese Explosion am späten Abend stattgefunden hatte, so dass niemand verletzt wurde.
Die drei beschlossen, einen Ausflug in die Innenstadt zu machen. Kurz vor dem Losfahren rief Anna an und erzählte, dass sie sich langweile, weil sie wegen einer in ihrer Schule grassierenden Epidemie nicht zum Unterricht durfte. Anno sprach kurz mit den beiden Kumpeln, pries Anna in den höchsten Tönen, bis diese mürrisch zustimmten: „Da soll die Schnecke schon mitkommen!“ Irgendwie nahmen die beiden Jungen die „Viererbande“ nicht so richtig ernst. … Von wegen „Schnecke“, haha, als Anna auftauchte, rissen sich die beiden abwechselnd darum, neben ihr zu gehen, sich mit ihr zu unterhalten. Jeder (Früh-)Pubertätsforscher hätte seine helle Freude an dem Verhalten der drei „Kontrahenten“ gehabt, denn jeder von ihnen wollte am dichtesten bei Anna sein.
Plötzlich kamen sie an einem Spielbrunnen vorbei. Er hieß natürlich anders, aber sie nannten ihn so.
Kay und Anno dachten sich ein Wettklettern aus – wahrscheinlich wollten sie beide der jungen Dame imponieren. Felix musste sich bei Kletterspielchen zurückhalten – vor allem bei solchen, die nicht ganz ungefährlich waren – damit er nicht den Zorn seines Vaters hervorrief.
Der Brunnen hatte mehrere solcher Skulpturengruppen, alle waren nass und glitschig und es war auch schon ganz schön kalt, denn es war Anfang Oktober. Anna und Felix wollten die beiden zurückhalten, aber die zogen sich schon bis auf die Unterbuxe aus. Anno wollte nicht immer nur klug und gut und klein sein – er wollte eben auch mal waghalsig über die Stränge schlagen. Er fühlte sich so stark, so 13jährig verwegen und er wollte eben auch mal den besten Klassensportler besiegen.
Die Wette ging folgendermaßen: Wer zuerst nacheinander auf allen obersten Brunnenfigurköpfen gesessen hat, ist Sieger. Anna und Felix waren Schiedsrichter. Anna passte bei Kay und Felix bei Anno auf, das alles mit rechten Dingen zuging.
Anno hatte sogar einen Vorsprung rausgearbeitet, weil er kleiner und leichter war, konnte er besser klettern. Und – bis zur letzten Figur ging alles gut.
2014 – Die Bombe platzt
Weil Anno diesen Vorsprung unbedingt halten oder sogar ausbauen wollte, wurde er unvorsichtig. Er plante die Glitschigkeit der Brunnenfiguren nicht richtig ein – denn plötzlich lag er im Becken. Da gab es kein Sprungtuch, das sich automatisch aufgeblasen hätte, um seinen Sturz zu dämpfen. Sein Arm tat unheimlich weh – am liebsten hätte er geheult, aber das wäre vor Anna uncool gewesen. Ein wenig schämte er sich auch vor Kay, weil er zwischendurch schon fast wie der Sieger triumphiert hatte. Aber Kay erwies sich jetzt als echter und vor allem als sehr umsichtiger Kumpel. Fach- und sachkundig stellte er fest, dass Annos rechter Unterarm offensichtlich gebrochen ist. Er rief einen Krankenwagen, benachrichtigte Annos Eltern und nahm die „Schuld“ auf sich, damit Anno keinen Ärger wegen der Figurenkletterei bekam. Er half ihm, blitzschnell alle Sachen anzuziehen, denn nur in der Unterhose hätte die Begründung, Anno wäre von Kay bei einer Kabbelei versehentlich in den Brunnen geschubst worden, unglaubwürdig gewirkt.
Der Krankenwagen brachte Anno in ein Unfallkrankenhaus und Anna begleitete ihn. Sie gab sich einfach als seine Schwester aus, was Anno unheimlich pfiffig fand. Die Mutter holte Anno im Krankenhaus ab und bald saßen alle in Annos Wohnung beim Kaffee – Anno stolz wie ein Spanier mit seinem ersten Gips im Leben, auf dem gleich alle unterschreiben mussten. Die Mutter bedankte sich besonders bei Kay und auch bei Anna – sie hatte das Mädchen sehr in ihr Herz geschlossen.
Anno grübelt darüber, dass sich das Verhalten seiner Eltern im Vergleich zu früher sehr geändert hat. Wenn er mal als kleiner Junge was ausgefressen hatte, bestraften ihn seine Eltern mit „Schweigen“ – kein Schimpfen, kein Fernsehverbot, kein Hausarrest – sie sprachen einfach nicht mit ihm, höchstens die notwendigsten Anweisungen kamen über ihre Lippen. Sie wollten eine „gewaltfreie Erziehung“ praktizieren und ihn nicht schlagen oder strafen – doch Anno litt genau darunter fürchterlich, denn er war ein sehr kommunikatives Kind und wollte schon zeitig diskutieren, auch über sein Fehlverhalten. Eher hätte er einen Klaps auf den Hintern, Fernsehverbot, Stubenarrest oder eine Strafpredigt ertragen– doch gegen diese Mauer aus Schweigen fühlte er sich so hilflos. Manchmal war er auch unschuldig – doch wie kann man mit jemandem reden, der nicht mit einem redet? Einfach unmöglich!
Er nahm sich damals vor, das nie nicht niemals bei seinen eigenen Kindern genau so zu machen. –
Seine Gedanken schweiften sogar noch weiter ab – er hatte ja jetzt ausreichend Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Er hatte beobachtet, dass das seine Eltern auch untereinander machten – besonders vom Vater ging dieses „Strafschweigen“ aus. Er verlangte von seiner Frau, dass sie mit ihm in der Erziehung konform geht und so schwiegen sie unisono dem kleinen Anno gegenüber. – Wenn er eine Frau bekäme, die dieses „Schweige-Zicken“ mit ihm machen will, wird er es ihr dreimal liebevoll erklären – doch sollte sie diese Schweigestrafe weiterhin anwenden, dann wird er sich trennen, denn von einem Menschen, den man gern hat und liebt, von dem will man nicht in Grund und Boden geschwiegen werden.
Aber zum Glück hatten sich seine Eltern wesentlich gebessert.
Die ersten Tage durfte Anno zu Haus bleiben. Er grübelte und grübelte, wie er Felix helfen konnte. Die Sache mit seinem gegebenen Versprechen lag ihm schwer im Magen. Er war von seinen Eltern so erzogen worden, dass man ein gegebenes Versprechen 100%ig einhält, damit sich Menschen aufeinander verlassen können.
Plötzlich hatte er eine Idee, wie er sich an diesem Versprechen vorbeischummeln könnte, ohne es zu brechen, nicht richtig einhalten bestenfalls..
Ein Großonkel von ihm war Arzt und ging auch manchmal in die Schulen zu Schuluntersuchungen. Dem vertraute er sich an, denn er wusste ja, dass der Schweigepflicht hatte. Deshalb sah er es auch nicht als gebrochenes Versprechen Felix gegenüber an.
Er konnte seinen Onkel überreden, in seiner Schule eine unangekündigte Untersuchung durchzuführen. In den Vorjahren hatte er beobachtet, dass Felix bei solchen Untersuchungen immer eine Entschuldigung seiner Eltern brachte und deswegen nicht anwesend war.
Sein Onkel sprach sich kurz mit der Klassenlehrerin ab, die natürlich auch schon Verdacht geschöpft hatte. Sie schickte Felix kurzerhand in das Untersuchungszimmer. Dort wollte er sich zwar weigern und sträuben, seine Sachen abzulegen, aber dann gab er doch nach und sah es als Schicksal an. – Als der Arzt das Ausmaß der Verletzungen und die vielen Narben sah, die sich überall am Oberkörper und an den Extremitäten befanden, schluckte er schwer – so ein stark misshandeltes Kind hatte er selten gesehen. Er wusste gleich und sofort: „Hier wird wohl eine Bombe platzen!“

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