Claras Allerleiweltsgedanken


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Autoerlebnisse im Winter 1978/79 …

oder: Eine Horrorcrashtour mit einem fast neuen Auto

Ganz, ganz treue Mitlesende mit gutem Gedächtnis können sich vielleicht an Fetzen der Geschichte erinnern, denn ich habe sie bereits 2010 mal veröffentlicht. Was heißt „Geschichte“ – alles wirklich wahr, nichts beschönigt, nichts dazu erfunden – aber alles zum Glück ca. 40 Jahre her – aber durch die jetzigen Winterereignisse wieder ins Langzeitgedächtnis gekommen. – Da es dort nur zwei Kommentare gab, gab es auch nicht so viele Leser

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„So viel Schnee in den Bergen, das ist ja toll“, jubelt Clara innerlich vor sich hin, als sie die Nachrichten im Fernsehen sieht. Sie denkt an ihre Tochter Marie-Theres, die mit Mann und Kindern die Winterferien zum Skifahren in Österreich nutzt. Auch Clemens, der Filius, treibt sich in irgendwelchen Schweizer Bergen zum gleichen Zweck herum. – Sie sitzt gemütlich auf der Couch, eingepackt in ihre rote Kuscheldecke. Bei diesen Außentemperaturen kann Clara eine Zwiebelschale mehr gut vertragen. Auf ihrem Schoß liegt ein spannendes Buch. „Irgendwann muss ja mal Schluss sein mit dem Winter“, denkt sie.  Bei dem vielen Schnee und Eis auf Straßen und Gehwegen ist Clara froh, dass sie nicht mehr täglich von ihrem Chef gerufen wird. So kann sich ihr kleiner „Leon“ in der Garage wärmen und sie kann sich auf der Couch ausruhen – oder auch umgekehrt. (ihr seht, geschrieben, als ich noch meinen Twingo hatte)

In diesem Moment bekommt der Ansagensprecher einen fast sakralen Tonfall. Er kündigte für die nächsten Stunden flächendeckend Blitzeis an und bittet alle, nicht unnötig das Haus zu verlassen. – „Offensichtlich brauchen die Unfallchirurgen jetzt schon ein zweites und drittes Paar Hände zum Operieren“, denkt Clara so halblaut vor sich hin. Manchmal redet sie mit sich, wenn es kein anderer tut – aber in der Öffentlichkeit hat sie es noch gut im Griff.

Das Wort Blitzeis tritt eine Erinnerungslawine los, gegen die alle Frühlingsgedanken einen aussichtslosen Kampf führen. Sie ist sofort bei der Jahreswende 1978/79, in der innerhalb von Stunden das Thermometer um 20° fiel und ganz Deutschland mit Nachbarn im Schnee- und Eischaos versanken.

Der wunderschöne hellgrüne Wartburg Tourist mit dem liebevoll ausgesuchten Namen ‚Hannibal‘ hatte seinen Kilometerzähler noch nicht einmal fünfstellig gefahren. Er war also noch ein absolutes Greenhorn in seiner Gilde. An der Suche nach seinem Namen war die ganze Familie mehr oder minder engagiert beteiligt gewesen. Clemens’ Vorschläge bewegten sich in der Welt eines Achtjährigen und fanden bei den Großen kein Gehör. Theres zeigte sich an der Namensgebung nur geringfügig interessiert, überhaupt war ihr das neue Auto nur mittelmäßig wichtig. Mathematik war viel spannender als Mechanik. – Da er immer vor der Tür stehen musste, hatte die Redewendung „Hannibal ante portas“ den Ausschlag für die Namenswahl gegeben.
Wie es bei der langen Wartezeit auf seine „Ankunft“ nicht anders zu erwarten war, liebten ihn drei aus der Familie abgöttisch und eine registrierte ihn als Neuankömmling. Im Gegensatz zu seinem gebrauchten Vorgänger war er nagelneu und absolut jungfräulich. Clara konnte sich noch sehr gut an ihre Angst erinnern, als sie ihn – lediglich mit Trabanterfahrung ausgestattet – im zentralen Auslieferungslager Rummelsburg holen durfte.
Der Junior war stinksauer, dass er noch nicht im Fahrschulalter war. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er ‚Hannibal‘ mit unserer Hilfe gern schon mal heimlich gefahren, um damit dann entsprechend in seiner Clique zu prahlen. Aber Clara legte heftigsten Protest ein. Schließlich war es ihre Aufgabe, mit den Automechanikern zu flirten, wenn es bei einer Reparatur mal zu lange dauern sollte oder, wie so oft, ein Ersatzteil nur schwer aufzutreiben war. Hannes hielt sich da mannhaft zurück.
Und dieses Auto sollte über Silvester polnische Luft schnuppern. Claras Cousine hatte zu einer zünftigen Party eingeladen. Clemens wollte sofort mitfahren, Theres jedoch blieb Silvester lieber bei der Oma. So konnte der freie Platz im Auto von Claras Tante eingenommen werden, die vom Gewicht her fast die drei anderen aufwog. Zum Glück war der Wartburg für 5 Personen zugelassen. Im Trabant hätten sich Hannes oder Clara durch den engen Einstieg auf den Hintersitz zwängen müssen, für „Tantchen“ wäre das nicht zumutbar gewesen.

Die Feier war okay, das Wiedersehen auch. Nach drei Tagen hieß es, wieder nach Hause zu fahren. Die Temperaturen waren schlagartig gefallen. Die dicke Eisschicht von der Windschutzscheibe konnte nur mit heißen Lappen aufgetaut werden, kratzen half da nichts mehr. Ein letztes Winken – und auf ging es Richtung Berlin.
Die vergeblichen Rufe der Cousine, die Fahrt zu verhindern, wurden nicht mehr gehört. Sie hatte die Warnung im Radio gehört, dass die wichtigsten Autobahnen dicht sind, weil Autos im Schnee stecken geblieben waren. Natürlich war auch die Ost-West-Achse lahmgelegt. Hannibal kam noch auf die Autobahn, musste dann aber kilometerweit rückwärts fahren, denn wenden war unmöglich.
Handy? Navigationsgerät? Winterreifen? Davon träumte der wilde Osten zu dieser Zeit noch nicht einmal.
Ein Stück lief auf der Landstraße alles völlig normal – bis zum ersten Knall. Rote Ampel, Glatteis, Auto in Warteposition – physikalisches Gesetz von dem einen und dem anderen Körper! Wir hatten sicherlich das größere Gewicht und somit war Hannibal stärker, nur büßte er dabei seine „Stoßzähne“ in Form der Scheinwerfer ein.
Kleines Malheur, bei diesem Wetter ohne Licht. Große Katastrophe, bei diesem Wetter ohne Heizung. Ständig musste einer von innen die Windschutzscheibe vom Eis frei kratzen. – Der zweite Knall ließ nicht sehr lange auf sich warten, nur stand Hannibal diesmal unglücklich als Hindernis im Weg. Somit hatten sich die Rücklichter auch noch verabschiedet.
Und dann war sie plötzlich dicht, die Straße. Ratlos diskutierten alle, nur Claras Sprachkenntnisse reichten unter diesen Umständen nicht aus.
Plötzlich tauchte ein rettender Engel in der Person eines Bauern auf. Er lud alle zu sich auf seinen Hof ein und gewährte Kost und Logis. Nun bewährte sich Tantchen sehr, denn sie konnte polnisch parlieren.

Nach einer Übernachtung wurde Hannibal wieder in den Kampf geschickt. Die Schneepflüge hatten die Hauptstraßen geräumt, aber dadurch die Zufahrmöglichkeiten zu den Nebenstraßen total blockiert. Der hilfsbereite Bauer benachrichtigte einen Freund, der das Auto samt Insassen auf einem Schleichweg mit dem Traktor zur Straße ziehen sollte.
Die Furchen der Lastwagenräder waren so tief, dass Hannibal nicht mit den „Füßen“ auf den Boden kam. Das bedeutete – das Seil zog ihn auf dem Unterboden rutschend über den Schnee. Clara war einem Heulkrampf nahe, Hannes bekam fast einen Herzinfarkt, die Tante zeterte und wollte ständig aussteigen und Clemens fand es spannend, spannend, spannend.
Zum Glück war auch irgendwann dieser Streckenabschnitt bewältigt. Die Besetzer der hinteren Reihe wurden in den Zug gesetzt, der Rest versuchte, das stark ramponierte Auto auf deutschen Boden zur Reparatur zu bringen. Im 30er Tempo war das ein etwas länger dauerndes Unterfangen, deswegen musste noch eine Hotelübernachtung eingeschoben werden. Nicht das Glatteis war jetzt der Hinderungsgrund, sondern die eingefrorene Knüppelschaltung. Üblicherweise hatten ja alle DDR-Autos Lenkradschaltung – aber hier bei dieser Version wollten die Konstrukteure mal was besonderes leisten. Warum sie den Kardantunnel nach unten offen ließen, blieb für immer ein ungeklärtes Geheimnis. Waren es Materialeinsparungsgründe? Durfte die DDR keine geschlossenen Tunnelsysteme in Autos einbauen?
Als Theres freudig Mutti und Vati begrüßte, beglückwünschten sie alle zu ihrer weisen Entscheidung, diese Fahrt nicht mitmachen zu wollen.“Hatte das Kind etwa den Seherblick?“, überlegt Clara ca. 30 Jahre später.

Clara musste später in Berlin in ihrer Autowerkstatt den „Charmingblick“ einsetzen, damit für Hannibal alle Ersatzteile beschafft und eingebaut wurden.

Bei den letzten Gedanken an diesen Horrortrip rutscht Clara auf dem Sofa immer tiefer, macht es sich bequem und denkt: „Heute verpasse ich garantiert nichts da draußen. Meinem „Leon“ will ich ähnliche Erfahrungen ersparen.“ Das Telefonklingeln hört sie schon nicht mehr – sie schlummert ihre Mittagsruhe.

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