Claras Allerleiweltsgedanken


Ein Kommentar

Donnas Schreibrojekt – März 2010

Schrecksekunden

Ein Lächeln, zart wie die ersten Sonnenstrahlen des herannahenden Frühjahres, wagte sich langsam an die Oberfläche auf Claras Gesicht . In den Augen standen jedoch noch  eher Tränen als Lachreflexe. Sie hielt ihren Sohn Clemens, der gerade mal vor einem halben Jahr die Schultüte ausgepackt hatte, ganz fest in den Armen. Er schmiegte sich eng an seine Mama und tröstete sie immer und immer wieder: „Mama, mir ist doch nichts passiert. Bitte hör doch auf zu weinen, bitte.“ Dabei hätte doch eher Clemens Grund zum Weinen haben müssen, denn der Lütte hatte vor drei Minuten seine erste Tracht Prügel im Leben bekommen.

Im Mimiktheater des Gesichts seiner Mutter wechselten sich  „Tränen“ und der ganz vorsichtig hervorlugende „Sonnenstrahl“  miteinander ab. Doch sie war nicht die einzige im Raum, bei der die Gefühle wie ein Expressfahrstuhl zwischen „himmelhoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“ hin und her rasten. Alle hatten eine Ahnung davon, welcher Gefahr Clemens soeben entronnen war. Im wahrsten Sinne des Wortes hätte es einen Augenblick später zu spät sein können.

Als Clara sich ein wenig beruhigt hatte, schilderte sie den anderen im Zimmer, was sie in den letzten Minuten erlebt hatte. Die Runde war größer als die sonst übliche Familie, denn Claras Bruder mit Frau waren vor einer Stunde angekommen. Die Kinder hatten sich auf Onkel und Tante schon sehr gefreut, denn meist erfüllte sich dabei ein „West-Wunsch“, zumal jetzt auch noch Ostern vor der Tür stand.

Zur Feier des Tages bekam Clemens die Erlaubnis, allein und  frühzeitiger aus dem Hort  zu kommen.

Als die Zeit ran war, wurde Clara langsam unruhig, denn Clemens hätte schon längst zu Haus sein müssen. Er war im Rahmen eines 6 1/2jährigen zuverlässig und die Neugierde hätte ihn pünktlich nach Haus locken müssen. Er wollte doch als erster den Mercedes vom Onkel mit seinen Luchsaugen aus der 6. Etage entdecken.
„Hannes, weißt du, wo Clemens stecken könnte?“, wendete sie sich beunruhigt an ihren Mann, der aber ganz mit Kellnerpflichten beschäftigt war. Die Dortmunder freuten sich schon während der ganzen Autofahrt auf das gute Berliner Bier.
Als sie keine Antwort bekam, nahm sie kurzerhand den Wohnungsschlüssel und ging Clemens entgegen. Kaum war sie auf dem langen Etagenflur des Hochhauses, wollte ihr schier das Herz stehen bleiben. Am Ende des Flures befand sich ein Balkon, den die Architekten aus Feuerschutzgründen geplant hatten.
Dort sah sie Clemens. Da der kleine Kerl zu klein war, um bequem über die Brüstung gucken zu können, hatte er sich hochgedrückt und hing mit den Beinen frei in der Luft, mit den Armen heftig seinen Klassenkumpels winkend. Wie in einem „Unfallverhütungsbuch“ ratterten die Anweisungen in Claras Kopf: „Nicht erschrecken, nicht anrufen, um Gottes Willen nicht schimpfen, nur leise anschleichen!“ Sie musste also leise und unauffällig ca. 20 m bis zum Balkon zurücklegen. Ihr Herz klopfte schon fast außerhalb des Halses, die Angst, dass er vor ihren Augen … Nein, so durfte sie nicht denken.
Mit einem Satz war Clara bei ihm, riss ihn förmlich von der Balkonbrüstung runter, bis sie ihn sicher in den Armen hatte.
Auf dem Gang zur Wohnung gingen Clara die Nerven durch. Heulend, schimpfend und und und verdrosch sie ihn, drückte und küsste ihn immer wieder – und machte sich in diesem Moment überhaupt keine Gedanken über pädagogische Ratgeberbücher. Clemens hatte wohl im Nachhinein den Ernst der Lage begriffen. Er heulte nicht, er jammerte nicht – nein, er tröstete mit seinen knapp 7 Jahren „mannhaft“ seine Mutter. Sicher war er froh, als sie bei den anderen in Wohnung waren, denn da konzentrierte sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf ihn. Er schummelte sich ganz schnell auf Tante Marlens Schoß und fragte nach seinem Ostergeschenk.
Die Antwort ging in dem allgemeinen Trubel unter, denn die wärmenden Sonnenstrahlen lockte alle zu einem vorösterlichen Spaziergang an das Ufer der Spree.

Mit diesem 100. Post  bedanke ich mich bei dem aufmerksamen Schutzengel, der an dem in der Geschichte beschriebenen Tag über Berlin-Mitte  Dienst hatte. Ihm oder ihr ist es zu verdanken, dass dieses lachende Schultütenkind jetzt als gestandenen Mann manchmal immer noch leichtsinnig und unvorsichtig durch das Leben lebt, fährt, düst.

Liebe Donna, bitte entschuldige, dass ich die Geschichte 11 Stunden vor der Zeit veröffentlicht habe, aber ich bin von 6.00 – 22.00 Uhr außer Haus. Aber vor allem danke an dich dafür, dass du uns alle so gut managst.