Claras Allerleiweltsgedanken


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2075 Skandal – nicht im Sperrbezirk, sondern in

… der Familie.

In der Benno-Familie war ja im letzten Jahr mächtig viel los. Benno selbst hatte nach einem Bandscheibenvorfall durch seine schwere Arbeit das absolute Verbot seines Orthopäden bekommen, dass er nicht mehr mit Werkzeug an der Skulptur stehen dürfe. Da kam ihm die Berufung an die Kunstakademie Potsdam als Professor h.c. (er hatte ja kein Studium vorzuweisen, um auf diesen akademischen Titel Anspruch zu haben) gerade recht. Der Arbeitsweg war noch im Limit, um ihn täglich zu fahren. Schwierig wurde es erst, als auch Katharina eine Dozentenstelle angeboten bekam – allerdings nicht in Potsdam, sondern in Berlin. Im Normalfall schaffte sie es, Anna selbst vom Kindergarten zu holen. War der Stau auf dem Stadtring von Berlin aber mal wieder undurchdringlich, managte sie alles von ihrem Display im Auto. Für solche Fälle gab es einen Kinderbetreuungsdienst mit einsatzbereiten Großmüttern, die dann einsprangen. Jannis mit seinen 11 Jahren sollte mit solchen Pflichten nicht überfordert werden. – Und Anna war sehr kontaktfreudig und hatte bisher auch noch nie über eine Oma vom Großelterndienst geklagt.

Jetzt aber weiter zum Skandal: „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“ Annika und Anno sind ja jetzt schon reichlich 3 Jahre ein glückliches Paar.

Anno, der kleine Sparfuchs meint, dass er ja nicht seine Rente verfallen lassen müsse, wenn er die Augen schließt – schließlich ist diese Rente ein schönes Sümmchen, da er sich immer gut zusatzversichert hat. Aber für seinen Antrag bei Annika überlegt er sich natürlich einen romantischeren oder witzigeren Grund.

Er meint: „Liebe Annika, auf die Knie falle ich nicht, um dich um deine Hand zu bitten, denn du sollst ja nachher keinen Invaliden vorfinden, der aus dieser unglücklichen Stellung nicht mehr hoch kommt – aber ich möchte von ganzem Herzen für den Rest meines Lebens mit dir die drei berühmten Ls genießen: LEBEN, LACHEN und LIEBEN. LUST und LAUNEN bekommst du noch als Zugabe dazu – ich habe auch schon schöne Ringe gesehen!“ – ‚Annika schaut ihn mit großen Augen an, nimmt ihn in den Arm, strahlt ein glückliches JA und …. und … dann lassen sie die Jalousien herunter, um, na um Mittagsschlaf zu machen, was denkt ihr denn sonst.

Annos Feier zum 75. Geburtstag ist für ihn der Anlass, von seiner geplanten Eheschließung zu berichten. Er hatte mit freudigem Applaus gerechnet – schließlich kommt Annika gut mit allen aus und wird sich bei Notzeiten sicher auch gut um ihn kümmern – aber die Tochter und der Sohn gucken erst einmal scheel. Den Schwiegerkindern spielt ein freudiges Lächeln um die Lippen, was sie sich aber nicht trauen, offen zu zeigen, da ja die Angetrauten so einen sauertöpfischen Gesichtsausdruck aufgesetzt haben. Anno will schon ungehalten werden und irgendetwas von Erbschleichern murmeln, da beruhigt ihn Annika wieder. Sie baut auf die Wirkung der Zeit. Und richtig, nach einiger Zeit ist dieser Skandal in den Köpfen seiner Kinder verdaut und sie gönnen ihrem Vater dieses Hochgefühl, das sich bald in einer Hoch-Zeit ausleben wird.

Felicitas beruhigt sich noch schneller als ihr Bruder über die Eheaussichten ihres Vaters – sie sieht tatsächlich stärker den Vorteil, dass sie sich nicht um ihren kranken Vater kümmern müsste, da sie beruflich sehr stark eingespannt ist. – Obwohl sie erst 5 Jahre in Berlin unterrichtet, bot man ihr die Stelle der stellvertretenden Direktorin an dem bekanntesten naturwissenschaftlichen Gymnasium an. Nach kurzer Überlegungszeit willigte sie ein, da sie sich alle familiären Pflichten wunderbar mit Maximilian teilen konnte – er war ein exzellenter Hausmann, der die leckersten Gerichte auf den Esstisch zauberte. Und seine Kuchen waren reineweg preisverdächtig. Er hat das „Familienzepter“ schon hoch und runter gekocht – und alles wurde von seiner Familie wohlwollend verspeist.

Dass ihre Chefin allerdings nach kürzester Zeit aus gesundheitlichen Gründen ausfiel – das hatte Felicitas  nicht eingeplant. Als sie ein halbes Jahr alles allein gemacht hatte, unterbreitete sie von sich aus dem Schulrat das Angebot, die Direktorenstelle zu übernehmen, damit man eine neue Stellvertreterin bestallen konnte. Und da hatte sie auch schon eine im Sinn, nämlich eine Studienfreundin aus Dresdner Zeiten, die Berlinerin war. Sie hatten sich zwar aus den Augen verloren – aber schnell war der Kontakt hergestellt und sie war auch einverstanden.

 

2077 – Mit 77 Jahren …

Das Lied von einem bekannten Sänger aus der Zeit vor ca. 100 Jahren „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“ war immer noch bekannt.

Annos gesamte Familie stand an seinem Geburtstag vor der Tür und schmetterte:

„Mit 77 Jahren, da fängt’s zwar nicht erst an, mit 77 Jahren, hat Anno Spaß daran …“

Da kamen ihm doch glattweg die Tränen der Rührung, obwohl er sonst gar nicht rührselig war – denn er liebte seine Kinder und Kindeskinder sehr. Er hatte das Gefühl, er konnte auf alle von ihnen stolz sein, denn jede und jeder ging seinen Weg, machte das aus seinem Leben, was in der eigenen Vorstellung lebte.

Seine älteste Enkeltochter Cora hatte gerade ein hervorragendes Abitur abgelegt – sie trat  ganz und gar in die naturwissenschaftlichen Stapfen ihrer Eltern, allerdings in medizinisch eingefärbte Stapfen. Im letzten Schuljahr hatte sie sich an einem Innovationswettbewerb beteiligt und einen sehr, sehr guten zweiten Preis bekommen. Von diesem Geld konnte sie sich ein Auslandssemester an einer englischen Universität leisten, wenn Papa und Mama und Opa noch ein wenig zuzahlten. Dazu waren alle bereit – und so startete ein wunderbares Fest – ein hervorragend bestandenes Abitur und ein toller 77jähriger EhemannVaterSchwiegervaterOpa wurden ausgiebig befeiert.

Als der ganze Trubel mit der damit verbundenen Aufregung vorbei war, schnappte sich Anno seine Annika und sagte nur: Überraschung. Trotz seines Alters konnte er noch hervorragend Auto fahren und sie fuhren in ein kleines brandenburgisches Landhotel für ein sehr schönes Wochenende. Er ging mit Annika in eine Kirche, die für ihn mit besonderen Erinnerungen verbunden war, aber darüber sprach er nicht mit ihr – die waren tief in seinem Herzen eingeschlossen, und dort bleiben sie auch. Noch nicht einmal euch erzähle ich sie.

Er zeigte ihr diesen wunderschönen Leuchter und sagte zu ihr: 77 Kerzen hat er nicht, aber wenn du die Anzahl der Kerzen zählst, dann weißt du, in welchem Alter ich das erste Mal in dieser Kirche war. Und seitdem ist sie etwas Besonderes für mich. – Seit damals war ich nicht wieder hier – du bist jetzt die erste, die diese Erinnerung mit mir teilen darf.

Annika nahm ihn liebevoll in den Arm, drückte ihn und hauchte ihm einen ganz zarten Kuss auf die Wange. Sie wusste instinktiv mit dem Wissen einer liebenden Frau, dass diese Erinnerung etwas mit Anna zu tun haben muss und dass sie den Teufel tun wird, daran zu rühren oder danach zu fragen. Nur Anno sollte entscheiden, ob er darüber sprechen wollte oder nicht – und er wollte nicht.